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Celtic Punk Invasion

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Schottland 2015 – Tag 3, 18. März

Nach relativ langer Nachtruhe (Frühstück ist für 11:00 Uhr angesetzt) erwartet uns ein in Schottland überaus seltenes Naturphänomen: Vom strahlendblauen Vormittagshimmel lacht uns die Sonne frech ins Gesicht. Tatsächlich, die Sonne scheint. Im März. IN SCHOTTLAND! Ehrlich gesagt, bin ich darauf nicht vorbereitet. Wer denkt denn allen Ernstes daran, nach Schottland eine Sonnenbrille mitzunehmen? Was kommt als nächstes? Mit Wollmütze in die Südsee? Mit Sonnencreme nach Chemnitz? Oder gar mit Badehose an den Strand? Irgendwann reicht es auch.

Während ich über diese wichtigen Grundfragen sinniere, geht unten auf der Straße ein Autoalarm an. Seltsam, da ist doch gar keine Parkfläche, wo Fahrzeuge abgestellt werden. Vielleicht ist es ja auch die Müllabfuhr, die gerade an die richtige Stelle zum Einladen der Tonneninhalte rangiert. Muss ein neuer Mitarbeiter sein, das überaus nervige Signal hört und hört nicht auf. Während wir uns in Ruhe anziehen, und Richtung Frühstück aufbrechen wollen, ortet mein Zimmergefährte Dietä mit seinem untrüglichen Gehör und mit Hilfe der geöffneten Zimmertür die Geräuschquelle auf dem Flur. Das ist also ein Feueralarm? Aber doch nicht jetzt! Die wollen doch bestimmt nur verhindern, dass jemand den Fahrstuhl benutzt, weil der eine schon wieder außer Betrieb ist. Während wir abwägen, ob wir nun dem Alarm Folge leisten, ist die Sirene verstummt. Schön, dann müssen wir ja nicht zu Fuß nach unten gehen und wir besteigen den Fahrstuhl, der just in diesem Moment auch bereit steht.

Der „Vormittag“ gehört einer (für mich) längst überfälligen Besichtigungstour durch Glasgow. Dazu wird eine Bustour (Hop on – hop off) angeboten, die an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei führt. Die Runde dauert knapp zwei Stunden mit Start und Ziel am George Square und insgesamt 28 Stationen, an denen man aus- und wieder zusteigen kann. Das hört sich erst mal gut an, relativiert sich jedoch schnell durch die sehr knapp bemessene Zeit, die wir zur Verfügung haben. Mit der Frühstückszeit 11 Uhr und der üblichen Dauer sind wir schon mal ziemlich spät dran, und so schaffen wir auch erst den Bus zur Abfahrt 13 Uhr. Die Busse fahren heute im Stundentakt, der letzte um 16 Uhr. Somit ist mein Plan, an zwei bis drei Stationen auszusteigen, hinfällig, denn nur eine Stunde, um sich Europas Museum des Jahres 2013 oder andere interessante Ausstellungen anzusehen, ist doch etwas knapp. Ich schließe mich daher einer kleinen Gruppe an, die den Botanischen Garten ausgewählt hat. Für Pflanzen brauche ich sowieso nicht lange.

Die Fahrt auf dem offenen Oberdeck wird zur Tortur. Ich bin heute noch froh, dass ich mich von der vormittäglichen Sonne nicht blenden und die warme Jacke nicht im Hostel gelassen habe. Der Fahrtwind schneidet die Gesichtshaut, zumal auch noch ein Teil der Strecke über eine Autobahn führt. Insofern kommt die Fahrtunterbrechung am Botanischen Garten für mich als ausgewiesenen Antifloristen (ich bin für meine völlige Ahnungslosigkeit in botanischen Dingen bekannt und eine Autorität im Eingehenlassen) einer wahren Erlösung gleich.

Wir gehen ein bisschen umher, in den Gebäuden herrscht ein angenehmes (feucht)warmes Klima, eine wahre Erholung nach der Fahrt in der Tiefkühlbox. Und es gibt Interessantes zu beobachten: Einige Pflanzen haben ein feines Gespür dafür, wer sich ihnen nähert, und neigen gerade in Gefangenschaft dazu, ihre Abwehrmechanismen fortwährend anzupassen. Thommy wird beispielsweise von einer Gruppe aggressiver Farne mit einer Art biologischem Wasserwerfer attackiert, auch ich laufe, nachdem ich ihn ausgiebig ausgelacht habe, in die gleiche Falle. Beeindruckend. In einem anderen Raum wird schon am Eingang vor „Killer Plants“ gewarnt, und so vermeiden wir es, den Finger hineinzustecken oder gar an den Blüten zu riechen. Langsam wird uns das unheimlich, außerdem ist unsere Stunde beinahe vergangen, und wir müssen wieder zum Bus, um die Tour fortzusetzen.

Wir bringen die Runde ohne weiteren Halt zu Ende, es hätte sich auch nicht mehr gelohnt. Einige beschließen, den Sonntag für den Besuch der Kathedrale und der „Totenstadt“ Necropolis zu nutzen. Für heute steht noch ein ganz besonderes Event auf dem Plan. Wir werden zum ersten Mal Glasgows berühmte Konzert-Location, den Barrowlands Ballroom besuchen und dort niemand geringeren sehen als die Dropkick Murphys. Es wird eines der beeindruckendsten Konzerte, die ich je erleben durfte.

„Ihr seid spät dran“ sagt der Türsteher vorm Saracen Head, als wir gegen halb sechs die Bar betreten, um vor dem Konzert noch ein bisschen vorzuglühen. Auf der anderen Straßenseite hat sich schon eine ordentliche Schlange vor dem Einlass gebildet, obwohl die Türen erst um 19 Uhr öffnen sollen. Aber das meint unser Freund nicht. Wir hatten gestern beim Aufbruch zur Tolbooth Bar unser Erscheinen für 17 Uhr angekündigt. Nicht schlimm, trinken wir eben ein bisschen schneller.

Wir finden sogar noch einen fast freien Tisch, nur ein Platz ist besetzt. Bei uns sitzt ein Mann um die vierzig. Er stammt aus Schottland, genauer aus Kilmarnock, lebt und arbeitet aber in London. Das Barrowland, so erzählt er, ist gewissermaßen „sein“ Laden. Natürlich nicht in dem Sinne, dass er ihm gehört, aber hier hat er seit seiner Jugend so viele Konzerte großer Bands erlebt wie nirgendwo sonst, so dass es ihn immer wieder herzieht. Sein 15jähriger Sohn, den er längst mit seinem Musikgeschmack infiziert hat, beschwert sich alle 10 Minuten per Messenger, dass er in London bleiben musste und nicht dabei sein darf. Rein von der Optik würde das schon klar gehen, der Junge ist groß gewachsen und spielt Rugby, aber mit dem Jugendschutz nehmen sie es hier schon sehr genau, in London ist das manchmal wohl einfacher.

„Warst du schon mal drüben?“ zeigt er auf die andere Straßenseite. „Nein? Dann halte dich nachher gut fest, wenn die Massen die Murphys auf die Bühne rufen. Die Energie kommt von der Bühne zurück, breitet sich wie eine Druckwelle aus und bläst dir die Ohren weg, unter dir bebt das Parkett. Let’s go Murphys!“ Seine Augen leuchten. „Also pass gut auf dein Bier auf, diese dünnen Plastikbecher taugen nichts. Wenn die Massen in Bewegung kommen, hat man die schnell zerdrückt.“ Einen Tipp gibt er uns auch noch: „Versucht nicht, euch quer durch den Saal zur Bar zu kämpfen, gleich links vom Eingang ist ein kleiner Tresen, da verkaufen sie auch Bier. Ist bequemer und geht auch schneller.“

Zwischendurch geht er ab und zu hinaus um zu schauen, ob der Einlass inzwischen begonnen hat, und mit seinem Sohn zu telefonieren. Jedesmal, wenn er wieder herein kommt, strahlt er vor Freude, weil die Sterne der Leuchtreklame so verführerisch blinken. Langsam fängt es auch bei uns an zu kribbeln. Finny von The Mahones, die die Murphys supporten, so sagt er, sei ein guter Freund von ihm, er wird dann nach dem Konzert bestimmt anfragen, ob es gut war. Und Katie mit dem Akkordeon, was für eine Energie sie hat. Letzteres kann ich bestätigen, ich habe die Celtic Punk Invasion ja schon im Februar in Hamburg gesehen.

Mit gegenseitigen Empfehlungen (Fahrt mal am Wochenende nach Edinburgh, da ist drei Tage „Punk for Pam“. – Besorg dir mal was von Dritte Wahl aus Rostock.) verabschieden wir uns, denn es wird Zeit, wir gehen zum Einlass. Kurzes Abtasten, dann sind wir drin. Eine Treppe hoch befindet sich die Garderobe (übrigens mit einer Superorganisation!) und daneben ist eine kleine Bar mit ein paar Sitzecken. Die Schlange vor dem Tresen wartet diszipliniert, ein Typ weist die Trinkwilligen immer der nächsten freien Thekenmitarbeiterin zu – ein bizarres Bild, aber so gibt es eben auch kein Gedränge.

Zum Konzertsaal müssen wir noch eine weitere Treppe nach oben. Als wir hereinkommen, beginnen gerade The Mahones aus Toronto. Toll, wieder mal die erste Band (Blood or Whiskey aus Dublin) verpasst, das wird bei mir langsam zur Tradition. Viel Zeit mich zu ärgern habe ich nicht, denn auf der Bühne brennt gerade ein Feuerwerk ab. Die Kanadier, immerhin schon seit 25 Jahren mit dem Etikett „Finest Irish Punk“ unterwegs, lassen es etwa dreißig Minuten ordentlich krachen, es gibt Songs von verschiedenen Alben zu hören. Vom sehr hörenswerten aktuellen „The Hunger & The Fight (Pt. 1)“, einem Konzeptalbum über Irland, Hunger und Auswanderung, gibt es den Titelsong und „Prisoner 1082“. Teil 2 über die „neue Heimat“ soll sehr New-York-bezogen und auch deutlich punkiger als der doch eher folk-lastige erste Teil werden und in diesem Jahr erscheinen. Bemerkenswert ist, dass beide Teile des Albums im Eigenverlag vertrieben und gewissermaßen per Crowdfunding vorfinanziert wurden und werden. Ich hoffe sehr, die Band demnächst mal als Headliner mit vollem Set zu erleben.

Und dann ist es so weit. Das Licht geht aus, „The Foggy Dew“ in der einzigartigen Interpretation von Sinéad O’Connor & The Chieftains lässt den ohnehin schon beachtlichen Lärmpegel zum Orkan anschwellen: „Let’s go Murphys!“ Und dann stürmt die Band die Bühne, eine unfassbare Energie erfasst jede und jeden im Saal, es gibt kein Halten mehr. Der Ausdruck „Roar“ – hier nimmt er Gestalt an, man kann es nicht nur hören, man spürt es mit jeder Faser des Körpers.

Das Publikum im Barrowland sing jedes einzelne Lied vom ersten bis zum letzten Ton mit, natürlich! Aber das Mitsingen umfasst nicht nur die Texte, sondern auch Gitarrenriffs oder Bagpipes-Zwischenspiele. Und dann „Fields of Athenry“! Da bleibt einem fast die Stimme weg, so sehr geht das unter die Haut. Es ist unglaublich, streng genommen erlebe ich hier und heute die Murphys zum wirklich ersten Mal – auch wenn die in Deutschland gesehenen Konzerte fast durchweg nicht von schlechten Eltern waren. Aber das hier ist einmalig und wohl nur noch von einem „Heimspiel“ in Boston zu toppen. Apropos: Dass Al Barr ausgerechnet „Shipping up to Boston“ nutzen kann, um seine Stimme mal etwas ausruhen zu lassen, weil das Publikum ohnehin alles selbst macht, kommt sicher auch nicht so sehr oft vor.

Nur beim abschließenden „If the kids are united“ gibt es eine ganz kleine Unstimmigkeit. Das vom Sänger skandierte „United!“ trifft nicht ganz den Geschmack von Teilen des Publikums, ein paar etwas ältere, aber gut trainierte Freunde in grün-weiß schauen sehr grimmig drein und antworten, die Fäuste in den Hosentaschen, mit „Celtic!“.

Ein unvergessliches Konzert, das sich auf meiner ewigen persönlichen Rangliste gleich hinter Bruce Springsteen 1988 in Berlin-Weißensee einreiht, ist beendet. Ich treffe am Merch-Stand noch kurz Finny und Katie von „The Mahones“, ein bisschen Smalltalk über die Tour, eine Erkältung in Hamburg und Anerkennung für mein Force-Attack-Shirt, das ich zur Feier des Tages trage, sowie meine Bitte, nicht zu lange mit den nächsten Auftritten in Deutschland zu warten, dann muss ich los. Ich staune, wie schnell sich der Laden jetzt leert. Ihre Sperrstunde ziehen die Schotten wirklich eisern durch.

Setlist The Mahones

A Great Night on the Lash / Paint the Town Red / Shakespeare Road / The Hunger & the Fight / Give It All Ya Got (or Forget About It) / Is This Bar Open ‚Til Tomorrow / Prisoner 1082 / Drunken Lazy Bastard

Setlist Dropkick Murphys

Out of Our Heads / Citizen C.I.A. / Prisoner’s Song / Rose Tattoo / Rocky Road to Dublin / The State of Massachusetts / 10 Years of Service / As One / Forever / The Auld Triangle / Famous for Nothing / Broken Hymns / The Legend of Finn MacCumhail / The Walking Dead / The Outcast / Going Out in Style / Fields of Athenry / Boys on the Docks / The Warrior’s Code / Johnny, I Hardly Knew Ya / I’m Shipping Up to Boston

The Boys Are Back / Kiss Me, I’m Shitfaced / Skinheads on the MBTA / If the Kids Are United

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